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               | Was
              sind vier Hundertstelpunkte im Turnen? Ganz schön wenig. Und wie
              kommt dieser kleine Unterschied zustande? Durch lauter
              Kleinigkeiten. Ein falscher Handgriff oder ein wackliger Abgang
              genügen, um von dem gestrengen Kampfgericht mit einem Punktabzug
              bestraft zu werden. "Nur ein Fehler weniger . . .",
              klagte Teamchefin Petra Nissinen,
              nachdem die deutsche Frauenriege bei der
              Kunstturn-Weltmeisterschaft in Anaheim das verpasst
              hatte, was den Männern tags zuvor gelungen war: die Qualifikation
              für die Olympischen Spiele in Athen. Ein Fehler weniger - und die
              nun untröstlichen Turnerinnen wären am Ziel gewesen. Ein Fehler
              mehr - und die überglücklichen deutschen Turner hätten eine
              Schmach erlebt. Ihnen reichte der kaum merkliche Vorsprung von zwölf
              Tausendstelpunkten zur Olympia-Qualifikation. Pech gehabt, Glück
              gehabt.
 
 Der winzige Unterschied hat weitreichende, ja fatale Folgen.
              Umfallen, aufstehen, weitermachen? So einfach ist das nicht. Kaum
              war die letzte Übung geturnt, kaum waren die letzten
              Hundertstelpunkte vergeben, sprach Rainer Brechtken das aus, was
              nun alle beschäftigt und tief beunruhigt. Der Präsident des
              Deutschen Turner-Bundes richtet einen geradezu flehentlichen, aber
              vermutlich vergeblichen Appell an all jene, die über die Vergabe
              der Fördermittel entscheiden: "Die Perspektiven sind
              vorhanden, da darf uns das Nationale Olympische Komitee nicht hängen
              lassen. Sportarten, die auf der Kippe stehen, darf man
              nicht fallen lassen." Das Frauenturnen steht seit Jahren auf
              der Kippe. Die deutschen Turnerinnen kommen nicht so recht auf die
              Beine und fehlen nun schon zum dritten Mal nacheinander als
              Mannschaft bei Olympischen Spielen. In der Förderung sind sie
              daher auf die unterste Stufe vier zurückgefallen. Dabei wird es
              vorerst bleiben. Und damit lassen sich auch weiterhin keine großen
              Sprünge machen.
 
 Eine so trainingsintensive Sportart wie das Turnen mit ihren
              personal- und kostenintensiven Lehrgängen benötigt mehr, als sie
              erhält. Ein altbekannter Fehler im System. Die staatliche Sportförderung
              belohnt die, die es schon können, und sie bestraft jene, die ihr
              Metier einmal beherrschen könnten. Und die deutschen Turnerinnen
              hätten es verdient, weil sie das Zeug dazu haben. Alle Beobachter
              waren sich einig, dass sie in Anaheim
              die seit langem beste Leistung gezeigt haben, dass
              die Klimmzüge der vergangenen Jahre zu einem unverkennbaren
              Aufschwung geführt haben. Die Riege hat zweifelsohne Perspektive.
              Vielleicht sogar eine bessere als die Männer. Die hatten
              unendlich viel Glück. Die Frauen waren im Pech. Dieser kleine,
              nicht messbare Unterschied sollte kein
              Kriterium für eine künftige Sportförderung sein.
 
 ( Volker Stumpe Frankfurter Allgemeine
              Zeitung )
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