update: 16-Jul-2004

Kienbaum/Berlin

Die schwärzeste Stunde
Der Turner Ronny Ziesmer ist gelähmt - die deutsche Olympiariege und ihre Betreuer wollen trotz des Unglücks nach Athen reisen

- von Michael Kölmel, Berliner Zeitung

16-Juli-2004, Berliner Zeitung

Michael Kölmel

Lange hatten sie gehofft. Auf ein Wunder. Oder eine unvorhersehbare Milderung. Die Verantwortlichen des Deutschen Turner-Bundes wollten es nicht wahrhaben. Doch dann, auf Drängen des Unfallkrankenhauses Berlin-Marzahn, mussten sie am Donnerstag die schreckliche Nachricht verkünden. Ronny Ziesmer ist in Folge seines am Montag erlittenen Unfalls unterhalb des Kopfes gelähmt. Daran änderte die Operation nichts, und daran wird sich wohl auch in Zukunft nichts ändern. "Wir müssen davon ausgehen, dass die Lähmung bleiben wird", sagt Oberarzt Stephan Becker. In seinem Satz klingt kaum eine Spur Hoffnung mit.

Selbst die Mediziner haben bei der Pressekonferenz Hemmungen, die beklemmende Wahrheit unverschlüsselt auszusprechen. Doch je länger die Sitzung dauerte, desto klarer wurden die Worte. "Wir können ihm nur Hoffnung machen, wieder ein erfülltes Leben zu führen", sagt Chefarzt Andreas Niedeggen. "Ein neues Leben beginnt", fügt Walter Schaffartzik, der ärztlicher Leiter des Krankenhauses, an. Immerhin, in materieller Hinsicht ist der Turner über Versicherungen abgesichert. Doch wie sein Weg zu neuem Leben aussehen kann, wie lange der 24-jährige Athlet aus Cottbus benötigt, um selbst von erfülltem Leben zu sprechen, ist ungewiss. "Jeder verarbeitet den Trennungsschmerz anders", berichtet Niedeggen aus seiner Erfahrung. Wer mit seinen Muskeln umzugehen wisse, so der Chefarzt, dem falle es in der Regel leichter. Dass aber für einen Sportler dieser Trennungsschmerz auch ungleich größer ausfallen könnte, weil sein Leben auf Bewegung ausgerichtet war und er sich lange Jahre darüber definierte, sagt er nicht. Er muss wohl auch nicht alles aussprechen.
"Ich stand direkt daneben"
Ronny Ziesmer war vor der Operation bei Bewusstsein. Er habe nach dem Aufwachen schon nach einer Therapie im Rollstuhl gefragt, das könne als gutes Zeichen ausgelegt werden, sagt Niedeggen. Dennoch, eine tiefe Depression werde folgen, die meist erst sechs Monate später abgeschlossen sei, vielleicht aber auch erst nach zwei Jahren. "Auftreten", so der Mediziner, "wird die Depression auf jeden Fall".

In tiefe Trauer sind nun zunächst einmal die Verantwortlichen des DTB gefallen, allen voran Cheftrainer Andreas Hirsch. Als er in Marzahn das Wort ergreifen soll, versagt ihm die Stimme, er kämpft mit den Tränen. Hirsch, dessen Sohn nur ein Jahr jünger als Ziesmer ist, vermag am Donnerstag kaum mehr als ein halbes Dutzend Worte am Stück zu sprechen. "Die Situation mit Ronny", sagt der 46-Jährige, "ist eines der schwärzesten Erlebnisse meines Lebens." Und nach einer kurzen Pause verbessert er: "Es ist das schwärzeste Erlebnis." Die Trainer, die den Unfall erlebt hätten, diesen Aufschlag auf Kopf und Nacken und die sofortige Lähmung, stünden vor einem totalen Werteverlust. "Was gestern erstrebenswert war", sagt Hirsch, "ist heute Null."

Aus: Berliner Zeitung vom 16.07. 2004, Autor: Michael Kölmel
Hervorhebungen/Fotos: GYMmedia

>>> GYMmedia-Bericht von der Pressekonferenz im Unfallkrankenhaus Berlin (Do, 15-Jul-2004)
.

.. gelesen bei: 


> GYMmedia NEWS



Ronny Ziesmer
(SC Cottbus)

Grüße an Ronny sind möglich über das 
Gästebuch des SC Cottbus

 

> GYMmedia NEWS

Die Angst turnt mit  (Berliner Zeitung, 15-Juli-2004)
- Das Olympiateam versucht, den Unfall von Ronny Ziesmer zu verkraften -

Es sind wohl die schlimmsten Tage im Leben eines Bundestrainers. "Eine absolut furchtbare Situation", sagt Andreas Hirsch, der sich in Kienbaum mit dem deutschen Olympiateam auf den Turnwettkampf von Athen vorbereitet, gleichzeitig aber mit dem schweren Unfall von Ronny Ziesmer zu kämpfen hat. "Natürlich haben wir gestern geturnt und werden es auch heute tun. Irgendwie müssen wir den Tag rumkriegen", sagt Hirsch. Im Vordergrund stehen jedoch die Gespräche: unter vier Augen, in kleinen Runden und mit dem gesamten Team. Über Ängste und Hemmungen wird diskutiert.

Psychologe Hans-Dieter Hermann aus Heidelberg, mit dem der Deutsche Turner-Bund (DTB) zusammenarbeitet, wurde hinzugerufen. "Aber auch er ist nur ein Mensch", sagt Hirsch. Er meint damit wohl die Unmöglichkeit, als Individuum solch einer Situation gerecht zu werden.

Die Angst turnt immer mit. Nicht bei allen Element, aber bei jenen, die neu einstudiert oder noch automatisiert werden müssen. Nach dem Unfall von Ronny Ziesmer am Montag, der nach einem Tsukahara mit Doppelsalto unglücklich landetet und sich schwere Verletzungen an Halswirbelsäule und Rückenmark zuzog, umso mehr. Nach der Operation ist nicht noch nicht klar, welche Folgeschäden Ziesmer davontragen wird.

"Wenn wir jetzt nicht über die Ängste sprechen, wann dann?", fragt Hirsch. Es ist eine rhetorische Frage. Rund um die Uhr steht er seinem nun auf fünf Athleten dezimierten Olympiateam und den drei Reserveturnern zur Verfügung, auch wenn ihm selbst in der ungewohnten Rolle des Gesprächstherapeuten "das Wasser bis zum Hals steht", wie er sich ausdrückte. "Ich toleriere jede Meinung", sagte der 46 Jahre alte Cheftrainer aus Berlin: "Ich werde nichts abwürgen, nichts unterdrücken und niemanden zu etwas drängen oder zwingen. Das bringt überhaupt nichts."

Alles aussprechen, sortieren und strukturieren, das ist Hirschs Methode. Er erinnert dabei auch an Ronny Ziesmers Pläne, der nach WM- und EM-Teilnahmen endlich auch bei Olympischen Spielen sein Können zeigen wollte. Von einem Traum mit "unschätzbaren ideellem Wert" hatte der 24-Jährige noch vor wenigen Tagen gesprochen. Von einem Traum, für den er Jahre seines Lebens investiert hatte und der nun innerhalb von Sekundenbruchteilen zerplatzte. Diesen Traum soll nun das Team verwirklichen, sagt Hirsch. Doch nur wer "voll bei der Sache ist", könne die Situation meistern. "Wir müssen den Kopf frei bekommen." Das klingt zynisch; ist es aber nicht.

Wer nicht konzentriert zu Werke geht, ist enorm unfallgefährdet. Gleichwohl gilt unter Sportlern und Psychologen der Konsens, wer nicht direkt wieder einsteige - ob konzentriert oder nicht - für den werde die Angstschwelle immer höher. "Nach dem Absturz sofort wieder ran", heißt deshalb die Devise bei Ski- und Turmspringern, alpinen Skirennläufern oder auch Zirkusartisten. Erst Anfang Februar brach sich die Berlinerin Katja Abel bei einer Übung am Stufenbarren beide Unterarme und muss nun bei Olympia zusehen. 2002 verunglückte Johannes Hablik bei einer Bodenübung und ist seither unterhalb der Schulter gelähmt. Das alles wissen Hirschs Turner, doch die Vorfälle waren emotional weit weg. Nun hat es einen aus ihrem Kreis getroffen.

Und es steht zu befürchten, dass die Hemmschwelle der Athleten in Kienbaum durch die Nachrichten aus Berlin wächst. Zwar konnte die künstliche Beatmung verhindert werden, doch "ob und in welchem Ausmaß sich die erlittenen Lähmungen zurückbilden werden, kann auf Grund der Schädigung des Rückenmarks nicht vorhergesagt werden", hieß es Mittwochmittag aus dem Berliner Unfallkrankenhaus. Nach dem Unfall war der ansprechbereite Cottbuser per Hubschrauber eingeflogen und umgehend operiert worden, um die Halswirbelsäule in Höhe des fünften und sechsten Halswirbelkörpers zu stabilisieren. Zu diesem Zeitpunkt war der Mehrkampfmeister des Jahres 2003 an beiden Armen und Beinen gelähmt.

Mit diesem Wissen müssen die Turner nun zurechtkommen. 
Am Sonnabend steht in Schwäbisch Gmünd ein Länderkampf mit Italien und Rumänien bevor, spätestens am 19. Juli muss Ziesmers Ersatzmann nominiert werden. Doch solange will der DTB nicht warten: Schon nach den Eindrücken vom Sonnabend wird man sich festlegen. Matthias Fahrig (18), Christian Berces (23), beide aus Halle, und Eugen Spiridonow (22) aus Saarbrücken waren als Ersatzturner nach Kienbaum gereist. Wer nun Chancen auf Athen hat, ist noch ungewiss. Sicher ist nur, ein olympischer Traum sieht anders aus.
Aus: Berliner Zeitung vom 15.07. 2004, Autor: Michael Kölmel
Hervorhebungen/Fotos: GYMmedia

.. gelesen bei: 


> GYMmedia NEWS



Ronny Ziesmer
(SC Cottbus)

 

 

 

 

 

Grüße an Ronny sind möglich über das 
Gästebuch des SC Cottbus

 

 

 

> GYMmedia NEWS