Waren es am Nachmittag schon rund 3.000
Zuschauer, so füllte sich gegen Abend die Halle restlos, und über
4.000 Zuschauer sahen ein begeisterndes Finale der besten 15
Gymnastinnen dieser XXIV. Weltmeisterschaften. Wobei das Publikum mit
seiner Begeisterung und dem unerschöpflichen Temperament einen gut Teil
zur tollen Atmosphäre beitrug – so kann man sich ein WM-Finale nur wünschen!
Wettkampfverlauf:
1. Durchgang:
Furioser Auftakt
von Irina Tschaschina mit dem Reifen >>
(28,450), die keinen
Zweifel an ihren Gold-Ambitionen ließ. Auch die beim Publikum so
beliebte Bulgarin Simona Peitschewa zeigte angesichts der WM-Atmosphäre
keine Nerven (Keulen 27,275), gefolgt von Tamara Jerofejewa, die sofort
den Kampf um Platz 3 aufnahm ((Reifen 26,975.) Da konnte die
mitfavorisierte Jelena Tkatschenko (Keulen 26,000) nicht mithalten. Dann
kam Alina Kabajewa, und die Halle drohte zusammenzubrechen... Und was
fast zu erwarten war: Sie zeigte Nerven, musste nach einem Fangfehler
ihr Seil ordnen und hatte in der Folge weitere kleine Unsicherheiten –
sie fiel um über einen halben Punkt hinter Tschaschina zurück!! Auch
Anna Bessonowa (UKR, Reifen 26,300) startete mit Fehlern, so dass sich
am Ende des ersten Durchgangs ein Viererteam im Medaillenkampf bildete:
>>
Tschaschina vor Kabajewa, Peitschewa vor Jerofejewa. |

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2. Durchgang:
Tschaschina mit ihrer schwierigen Ballübung
bot zumindest an zwei Stellen ihres Vortrags geringe Angriffsmöglichkeiten
für die Kampfrichterinnen – und wurde sehr hart bestraft (nur
26,625). Den Ruf großer Strenge hat sich der Kampfrichterpool hier in
Madrid schon erworben – bisher jedoch immer mit dem Zusatz: ... aber
gerecht! Möge es so bleiben...

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<<
Simona Peitschewa mit ihrer ausgesprochen
originellen Seilkür turnte wieder frisch und unbekümmert, blieb im
Medaillenbereich (26,350). Ganz in weiß und mit wunderbarer
Bewegungsweite zelebrierte Tamara Jerofejewa ihre Ballübung; allerdings
auch sie nicht ganz ohne Fehler (26,375). Die WM ist eine nervenzehrende
Angelegenheit... Tkatchenko konnte sich mit dem Seil nicht steigern und
fällt zurück, für sie rückt später Bessonowa auf Rang 5 vor.
Kabajewa mit dem ungeliebten Reifen, der ihr bei den Olympischen Spielen
zum Verhängnis geworden war: Und wieder brachte er ihr kein Glück;
mindestens drei Fehler waren für die Zuschauer sichtbar, und natürlich
auch für die Kampfrichterinnen. |
Trotzdem bekam sie eine sehr hohe Note
(28,375) – da die Jurorinnen nur ihre Wertungsvorschriften befolgten;
und die lassen so etwas zu. Neuer Publikumsliebling ist die kleine
Jennifer Colina, die herzerfrischend und mit spanischem Temperament das
Publikum aus dem Häuschen geraten lässt. Tolle Vorstellung auch von
Almudena Cid Tostado mit dem Seil nach einem der Modehits der Saison.
>> Neue
Reihenfolge: Kabajewa vor Tschaschina, Peitschewa vor Jerofejewa.
3. Durchgang:
Alina Kabajewa kann kämpfen, und
sie bewies es mit ihrer Ballübung; routiniert und mit dem ihr eigenen
Charme turnte sie die Kür mit den schon berühmten Eigenkreationen –
28,250 Punkte sicherten ihr die Führung. Die sonst so elegante und
leicht agierende Anna Bessonowa scheint völlig neben sich zu stehen und
hat mit ganzen Fehlerketten zu kämpfen...
Irina Tschaschina gibt sich nicht geschlagen: Ein Feuerwerk nach
spanischer Gitarrenmusik zaubert sie mit den Keulen, fällt einmal aus
Drehung und bekommt 27,825 Punkte. Das festigt ihren zweiten Platz,
macht den ersten nun aber schon fast aussichtslos. Nächstes Feuerwerk
von dem Mädchen ohne Nerven, die selbst die spektakulärste Passage
voll auf Risiko turnt: Simona Peitschewa mit dem Reifen (26,975) –
Bronze rückt in ganz greifbare Nähe. |

Alina Kabajewa, Reifen
|
Doch auch Tamara Jerofejewa ist
eine Kämpfernatur. Ganz in rot, zeigt sie ihre Keulenübung mit „Slow-Motion“
Drehungen, die nur sie so schön beherrscht. Doch sie bleibt deutlich
auf Rang 4.
>> Reihenfolge nach drei Übungen:
Kabajewa vor Tschaschina, Peitschewa vor Jerofejewa.
4. Durchgang:
Kabajewa musste
schon als Dritte des Durchgangs auf den Teppich, und sie
machte mit der Keulenübung alles klar: Jetzt hatte das Publikum nicht
nur die amtierende, sondern auch die neue Weltmeisterin gesehen. Schon
ein wenig auf Sicherheit bedacht, spielte sie dennoch charmant ihr
ganzes Können aus und bestätigte, welche Ausnahmegymnastin sie derzeit
ist. 28,550 Punkte – das war’s!
Zumal Irina Tschaschina dann mit dem Seil doch noch Nerven zeigte und
nicht mit der gewohnten Souveränität turnte – 26,850. Aber sie ist
eine so tolle Silbermedaillengewinnerin, und dem russischen Verband kann
man zu zwei solchen Ausnahmeathletinnen nur gratulieren!
Dann schien alles sicher für die
sympathische Simona Peitschewa, den Shooting-Star dieser Saison, für
ihren dritten Platz – ihre Übung war gut, aber wie sich erwies, nicht
gut genug. Denn die letzte Starterin dieses begeisternden Finals kippte
die Sache – Tamara Jerofejewa gewann doch noch
Bronze. Mit
Routine, großem Kampfgeist und großem Können zeigte sie ihre Seilübung,
bekam 27,125 Punkte – und gewann Bronze mit ganzen 0,75 Punkten
Vorsprung. Worüber sie sich bei der Siegerehrung mindestens ebenso
freute wie Alina über Gold...
„Gemischtes“
Finale
Nur fünf Gymnastinnen des Mehrkampffinals der WM 1999 von Osaka standen
auch im Madrid im Kampf um WM-Gold. Titelverteidigerin Alina Kabajewa,
Tamara Jerofejewa (UKR), Almudena Cid Tostada vom Verband der Gastgeber,
Ephmorphia Dona (GRE) und Laura Zacchili (ITA). Das spricht für die
Qualitäten dieser Gymnastinnen, zeugt andererseits von der Schnelllebigkeit der Sportart. Von diesen beiden Komponenten war dieser
Mehrkampf auch geprägt – der Erfahrung, Routine und Weiblichkeit der
eben genannten standen Premierenfieber und Erfolgswillen vieler sehr
junger Gymnastinnen gegenüber, die sich langfristig auf die Olympischen
Spiele 2004 vorbereiten. Zu ihnen gehört Olga Lukjanov, oder auch die
Spanierin Jennifer Colina (übrigens ein Schützling von Nina
Witritschenko), Olga
Gusartschuk aus Lettland und vor allem die Bulgarin
Elisabeth Paissieva, die als jüngste WM-Starterin 7. (!) des
Klassements wurde und am Sonntag dreimal im Finale steht!
Das
war nicht Olgas Tag...
Am Nachmittag hatte zunächst die Gruppe B
(Qualifikationsplätze 16 – 30) ihren Wettkampf gezeigt.
Mit dem Erfolg von Hannah McKibbin in der
B-Gruppe machten die Britinnen noch einmal nachdrücklich auf sich
aufmerksam: Bereits im Mannschaftskampf waren sie 10. geworden (1999
Platz 32!!), und die 16jährige Hannah hat alle Voraussetzungen, in
Zukunft noch weiter nach vorn zu kommen (sie wurde am Ende ). Die
bulgarische Trainerin Nadia Alexandrova betreut seit zwei Jahren die
britischen Gymnastinnen; doch das allein genügt noch nicht, um solche
Qualitätssprünge zu machen, wie man ja auch in Deutschland weiß...
Olga Lukjanov begann gut, wurde für ihre poppige Seil-Übung mit viel
Beifall bedacht und war nach dem ersten Durchgang Zehntbeste. Pech hatte
sie mit ihrer interessanten, neuen Reifenübung: Buchstäblich in
letzter Sekunde landete der Reifen auf ihrer Fußspitze und rollte
davon... Die Ballübung war auch nicht sehr überzeugend, so dass sie
nach dem 3. Durchgang auf dem vorletzten Platz lag, und daran konnte
auch ihre Keulenübung (mit Keulenverlust) nicht mehr viel ändern –
am Ende wurde Olga 13. der B-Gruppe und 28.des Gesamtklassements..
Die Qualitäten des RSG-begeisterten Publikums in Madrid – übrigens
eine spanische Hochburg der Sportart – zeigte sich einmal mehr, als
bei der Seilübung der Slowenin Dusica Jeremic plötzlich die Musik
ausfiel: Mit rhythmischem Klatschen, Trampeln und Beifall trugen sie
Dusica förmlich über den Rest der Übung, die sie souverän beendete
und mit wahrlich weltmeisterlichem Beifall belohnt wurde.
Ein Reglement, das stört
Man kann nicht umhin, nach diesem
Mehrkampffinale wiederum das misslungene, derzeit gültige Reglement
anzusprechen. Offensichtlich ist der enorme Rückgang der Beteiligung an
der WM (von den Absagen, die durch die politische Situation entstanden,
abgesehen) darauf zurückzuführen. Was schon mehrfach gesagt
wurde, aber in Madrid wieder deutlich zu sehen war: Die Schönheit der
Sportart hat gelitten, viele Gymnastinnen sind sichtlich überfordert
und die Vielfalt der Stile, der Kolorit der verschiedenen Länder und
Traditionen, gehen ganz verloren. Was könnten auch Gymnastinnen wie
Anahi Sosa aus Argentinien über ihr Land „erzählen“ in ihren Übungen
(sie schafft es trotz Reglement noch bewundernswert...), was die
Chinesin Minhong Zhu (mit toller Reifenübung, die 22,475 Punkte dafür
waren die Höchstnote der gesamten B-Gruppe!) oder die Georgierin Vanda
Kereselidze – wenn man sie denn ließe...! Lediglich die fünf, sechs
Gymnastinnen an der Spitze können die Anforderungen des Reglements so
bewältigen, dass es zumindest manchmal nicht nach Anstrengung aussieht.
So ist denn die sportliche Vielfalt dieser ansonsten schönen WM dem
Code de pointage zum Opfer gefallen.
(Aus Madrid: Sonja
Schmeißer, Text und Dirk Zimmermann, Fotos)
FIG: Offizielle Mitteilung
Eine rote, drei gelbe ! Madrid, 21.
Oktober 2001
Nach den Mehrkampffinalen der
Weltmeisterschaften in der Rhythmischen Sportgymnastik in Madrid hat der
Internationale Turnverband FIG Sanktionen gegen einige Kampfrichterinnen
verhängt.