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BERLIN, 8. September. Ein Reifen, der auf dem großen Zeh balanciert, ist
kein alltäglicher Anblick. Selbst Livia
Medilanski, als Cheftrainerin der
deutschen Gymnastinnen mit allen erdenklichen Stellungen großer Zehen
vertraut, kann bei der Betrachtung noch ins Grübeln verfallen. Die
Organisatoren des Gymnastik-Grand-Prix in Berlin hatten ein Bild mit
Reifen
und Fußspitze als Plakatmotiv gewählt. "Aber weiß jeder Zuschauer
in der Halle, was das bedeutet?", fragte Medilanski:
"Dahinter
steckt harte Arbeit und langes, sehr diszipliniertes Training."
Die weltbesten Gymnastinnen können mehr,
als einen Reifen mit dem Fuß festhalten. Sie lassen ihn auf dem Rücken
dribbeln, wie Alija Jussupowa aus Kasachstan. Sie können, wie die
Spanierin Almudena Cid Tostado, ein Bein senkrecht in die Höhe strecken
und mit ihrem Fuß einen Ball fest klemmen, als hätten sie am Knöchel
einen Klettverschluss. Und sie führen den Fuß rückwärtig Richtung
Kopf, legen sich die Ferse sacht auf die Schulter, als wäre sie eine Art
Kuscheltier und jonglieren dabei mit Keulen - etwas, das nur Alina
Kabajewa kann. |

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Rhythmische Sportgymnastik ist der Versuch,
mit vier Handgeräten die Schwerkraft zu überwinden. Die Russin Alina
Kabajewa wurde berühmt, weil sie nebenbei auch die Gesetze der Anatomie
auf den Kopf stellen kann.

Alina Kabajewa:
"Miss Turnier" in Berlin und wieder auf bestem Wege zur
"Nr. 1" in der Welt
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Sie hatte seit 1998 die Sportart beherrscht und
verändert durch erstaunlichste Verbiegungen, die der Weltverband (FIG)
als nachahmenswert empfahl. Doch dass sie am Wochenende auch in Berlin die
Norm setzen würde, hatte so keiner voraussagen können. Alina Kabajewa (19)
hatte sich wie ihre russische Kollegin Irina
Tschaschtschina (20) seit Oktober
2001 keinem Wettbewerb mehr stellen dürfen; beide waren wegen Dopings,
der Einnahme des Diuretikums Furosemid, gesperrt.
Nach Berlin kamen sie dank eines vorläufigen
Urteils des Sportgerichtshofs Cas, der ihre Suspendierung aussetzte. Die
abschließende Verhandlung wurde - durch glückliche Verfügung oder verständnisvolle
Richter - erst für November, nach der EM, anberaumt. So äußerten sich
Kabajewa und Tschaschtschina nun mit keinem Wort zu ihrem Dopingfall, sondern
erklärten beide nur bescheiden lächelnd, dass sie Europameisterinnen
werden wollen.
Irina
Tschaschtschina >>
- Berliner Dreifach-Siegerin |

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Die Chancen sind tatsächlich bestens.
Tschaschtschina schmaler, kleiner, quirliger als die Konkurrentin, setzte
sich im Mehrkampf sofort wieder an die Spitze der versammelten Weltelite.
Zusätzlich siegte sie in den Finals mit Reifen und Keulen. Und Kabajewa
konnte sich im Mehrkampf sogar leisten, dass ihr Reifen und Ball
versprangen: Sie wurde Dritte hinter der grandiosen Bulgarin Simona
Peitschewa, die drei der WM-Titel innehat, die dem russischen Duo nach dem
Dopingtest aberkannt wurden. Am Sonntag gewann Kabajewa das Finale mit
dem Seil. Wenn ihr noch etwas fehlt, dann ist es Kondition, auch wenn ihre
Trainerin Irina Viner versicherte, dass sich die Musterschülerin in den
vergangenen Monaten keinen Urlaub gönnte. Die Zeit der Sperre aber hat
Kabajewa nicht unverändert gelassen: Sie wirkt erwachsener, weniger schmächtig,
und sie legt Wert darauf, dass ihre Programme femininer wirken.
Ansonsten sei alles wie immer, an
Preisrichter und Noten denke sie nicht, sie genieße den Auftritt - was
man so sagt, wenn die strenge Trainerin danebensteht und übersetzt. Mit
Genugtuung aber wird Kabajewa registriert haben, dass ihr ein Wettkampf
genügte, die alte Ordnung wieder herzustellen. Sie hat alle hinter sich
gelassen, die zuletzt die Spitzenplätze ihres Sports einnahmen: die
Rivalin Sarina Gisikowa etwa, die in ihrer Abwesenheit die
Grand-Prix-Wertung übernahm.
Der Rest der Welt hat sich abgefunden mit
dem Fakt, dass Alina Kabajewa noch immer Gesetze außer Kraft setzt, die für
andere bindend sind. "Ich weiß, dass ich nie so beweglich sein werde
wie sie", sagte die 16 Jahre alte deutsche Meisterin Annika Rejek aus
Leverkusen, die in Berlin ihren ersten großen internationalen Wettkampf
bestritt: "Ich weiß, dass ich für alles sehr, sehr hart arbeiten
muss." Eine Arbeit, die Cheftrainerin Livia Medilanski zu Genüge
kennt: Auf dem Fuß einen Reifen zu balancieren, kann allein ein einziger Kraftakt
sein. Barbara Klimke
(Quelle: Berliner Zeitung vom 09.09.02; Hervorhebungen: gymmedia)
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(Foto:
gymmedia)
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