update:15-Nov-01

Turnpraxis erwartet Reaktionen des DTB nach der deutschen Turnkatastrophe zur WM in Gent

- Zur Situation vor Präsidium- und Hauptausschuss-Tagung -

Ein Kommentar von Eckhard Herholz

 
 

dtb-info 45/12-Nov-01:  
DTB-Hauptausschuss tagt in Mainz

>> Am kommenden Samstag, den 17.11.2001 tagt der Hauptausschuss des Deutschen Turner-Bundes in Mainz.
Die Sitzung des zweithöchsten DTB-Organs findet von 9.00 bis ca. 15.00 Uhr im Drusus-Saal der Zitadelle Mainz statt. Im Zentrum der Tagesordnung steht das Qualitätsmanagement in der Aus- und Fortbildung des Verbandes, die Diskussion über die Situation von Mädchen und Frauen im DTB sowie die Beschlussfassung des Haushaltes für das kommende Jahr 2002. Als Vertreter der Stadt Mainz wird Bürgermeister Norbert Schüler gegen 12 Uhr die rund 80 Delegierten des DTB aus dem gesamten Bundesgebiet begrüßen.
>> Bereits am Freitag, den 16.11.2001 trifft sich das DTB-Präsidium zu einer turnusmäßigen Sitzung (12-16 Uhr) sowie zu einer Beratung mit den Landesvorsitzenden (16-19 Uhr). Diese Tagungen finden im Hotel Ibis in Mainz statt.

Es soll doch noch verantwortungsbewusste Frauen und Männer im Turn-Leistungssport geben, die dieser Ankündigung des zweitgrößten Sportverbandes im Lande einige Bedeutung beimessen!
Weil es doch einfach nicht sein kann, dass die Spitzengremien kurz nach dem (Männer-) Desaster von Gent, wo sich der weltgrößte Turnverband - und im Vergleich zu anderen Turnnationen keineswegs der ärmste - mit Rang 13 dermaßen blamierte, dass es eigentlich noch die Olympia-Katastrophe von Sydney bei weitem übertraf - an diesem Thema stillschweigend vorüber gehen werden.
Es müsste dort in Mainz eigentlich einen Aufstand aller Turn-Landespräsidenten geben:

Wie soll man für mehr Sportstunden an den Schulen, für größeren Anteil des Gerätturnens kämpfen, wenn es keine wahrnehmbaren Eliten mehr gibt?
Wie soll man Kinder für die olympische Kernsportart Gerätturnen gewinnen, wenn sie keine bekannten Vorbilder mehr haben?
  Wie soll man verlorenes mediales Terrain zurückerobern, wenn man mit "Loosern" statt mit Siegertypen durch die Wettkampfarenen der Turnwelt zieht......?

Bei aller Anerkennung der aktuellen WM-Leistung des Frauenturnens - dem man einen nicht unwesentlichen Teil des finanziellen Budgets entzog, die aber mit Bravour das maximal Mögliche aus der Situation machten - sie wurden Achte im Nationen-Finale: Der Weltspitze ist damit aber auch das deutsche Frauenturnen leider (noch) keinen Schritt näher gekommen, wie ein Spitzenfunktionär des DTB am WM-Ort in erster Euphorie glauben machen wollte.
Von den Gremien des Spitzensportverbandes werden einschneidende, vorwärtsweisende Veränderungen gefordert!
Aber: Können das diese Gremien überhaupt...?
Oder noch schärfer gefragt: Gibt es überhaupt solche Gremien, die in professioneller Manier unter Einbeziehung wissenschaftlicher Methoden von Trainingsmethodik, Medizin und gesellschaftlich-relevanten Leitungs- und Führungsstil im "Full-Time-Job" solcherart neue Strukturen schaffen, die ein Wiedererreichen neuer olympischer Ziele überhaupt realistisch erscheinen lässt?
Da hat der DTB eben erst eine "neue Struktur" installiert. Was den Leistungssport betrifft, fehlem jedoch derartige mit weitestgehend professionellem Charakter und einer geschickteren Beiordnung und sinnvolleren Platzierung ehrenamtlicher Tätigkeiten und Kompetenzen.
Terminologische Fragen ob Gerätturnen oder Kunstturnen scheinen die Gemüter mehr zu erregen, als wirklich und ernsthaft dafür zu sorgen, dass aus der ehemaligen Turn-Nation wieder ein Olympiasieger oder eine Weltmeisterin kommen. Besser könnte man wohl kaum für die Einheitlichkeit im Denken und Handeln der Disziplin Gerätturnen werben!
Man kann sich nicht mehr länger "humanistischen Leistungssport" auf seine Fahnen schreiben und den Druck anspruchsvoller, leistungssportlicher  Zielstellungen in akuter Diskrepanz mit dem Trainingsalltag vorrangig an den Athleten auslassen. In Deutschland trainiert man einfach zu wenig lang und nicht ausreichend gut, aber nicht weil die Athleten nicht wollen oder weil es ihnen zu gut geht, sondern weil es nicht gelungen ist, ihnen dafür die Bedingungen zu verschaffen! Sicher sind hierbei Männer und Frauenturnen differenziert zu betrachten (Man muss sich bei den Herren der Turn-Schöpfung schon fragen, wieso z.B. unter Bundeswehrbedingungen nicht anspruchsvollere Leistungsprofile zu den Top-Ereignissen angeboten werden.)
Erschreckend aber ist andererseits, wie man nach Sydney mit "Persönlichkeitsprofilen" umging. Niemand zweifelt daran, dass es sich in Athen 2004 nur um junge Kader mit entsprechenden Leistungen handeln kann und Strategien dahingehend ausgerichtet sein müssen! Aber die Zeiten der Brechstangenpolitik sollten im Zeitalter mündiger Athleten ein für allemal vorbei sein! Männer wie Andreas Wecker, Sergej Charkow, Marius Toba, Waleri Belenki sind nicht nur außergewöhnliche Weltstars - natürlich auch mit Ecken und Kanten-  sondern sie haben sich diesen Ruf wahrhaftig durch ein Leben für den Leistungssport und mit realen Leistungen erkämpft! Und wenn sie mit ihrer vorbildlichen Leistungen immer noch die Jungen düpieren, dann schiebt man sie nicht einfach trotzdem aufs Abstellgleis, sondern hat sich um die Ursachen der mangelhaften Entwicklung der Folgegeneration zu kümmern! Alles andere ist einfach dumm und ungeschickt und der Sache schädlich! Hier sollte man sich am Beispiel Fußball orientieren, wie (in der Regel) die Stars der Vergangenheit in die DFB-Verbandsstrukturen integriert und für weiteren Progress genutzt werden.
Wenn ein Vize-Präsident Leistungssport Eduard Friedrich erst 4 Wochen zur WM-Qualifikation in Kolkwitz zum ersten Male persönlich  d e m  Manne begegnet, der dann als Erfahrendster doch im WM-Team steht, dann wurde dort diese spezifische Verantwortung einfach unzureichend und ungeschickt und zum Schaden der Sportart wahrgenommen (Es handelte sich hierbei um Olympiasieger, Ex-Weltmeister Waleri Belenki aus Stuttgart, der sich dann leider in Gent verletzte...).
Überhaupt müssen außer grundsätzlichen Strukturen nun auch die persönlichen Verantwortungen hinterfragt werden. 

  • Wie nehmen Chetrainer, Sportdirektor oder andere in Sachen Leistungssport vom DTB Beauftragte und Bestallte ihre Verantwortung wahr...?
  • Woran misst man ihre Ergebnisse oder die Wirksamkeit ihrer Strategien, Konzepte, Visionen...? Haben sie überhaupt welche...?
  • Welche Qualitäten gibt es im alles entscheidenden Nachwuchsbereich? Wie wirksam sind dortige Konzepte, Messungen, Analysen? Was hat die langjährige Arbeit des IAT Leipzig (Institut für Angewandte Trainingswissenschaft) bewirkt oder nicht bewirkt?
  • Wieso fällt die Rhythmische Sportgymnastik nach dem Abschied einer (!) Top-Athletin (Edita Schaufler) in ein absehbar großes Leistungsloch?
  • Reichen die Bedingungen im deutschen Trampolinturnen überhaupt für olympische Ansprüche aus und wie sichert man den Übergang des zweifellos vorhandenen Nachwuchses (siehe JEM 2000) in einen professionell betriebenen Spitzenbereich ab?

Erfolgten solche Fragestellungen nach Sydney nur sporadisch und nicht zwingend genug, sollte es jetzt  und konsequent geschehen: Denn - außer im Verantwortungsbereich der nur auf "halber Planstelle" gesetzten, aber äußerst geschickt und gefühlvoll agierenden Dr. Petra Theiss im Frauenturnen - sind im Männerbereich dramatische Rückentwicklungen in den letzten Monaten traurige Tatsache. Verstrichen ist dabei mehr als ein Viertel des neuen Olympiazyklusses, schlimmer noch: In zwei Jahren (!) schon schlagen die Stunden der Wahrheit zur WM in den USA - Olympiaqualifikation oder nicht!

Am Rande des WM-Podiums 2001 lächelte man bereits über das deutsche "Spitzenturnen" und über einen Verband in einem reichen Lande, dessen Gastgeberschaft man bei internationalen Veranstaltungen und überhaupt zwar gerne nutzt und schätzt, aber dessen Athleten man immer weniger als Konkurrenten zu fürchten hat; der aus der Sicht Usbekistans, Kasachstans, Brasiliens, der Ukraine, Weißrusslands u.a. über nahezu traumhafte Bedingungen verfügt, der sich aber nichtsdestotrotz in den Bereich der sportlichen Unerheblichkeit" zu verabschieden droht...!

Sind es nicht gerade solche Gremien eines Sportverbandes, wie Präsidium und Hauptausschuss, die etwas bewirken müssen -  wer sonst kann Weichenstellungen dieser Größenordnung bewerkstelligen? Aus Insiderkreisen war zu hören, dass sich einzelne Landesverbände entsprechend zu Wort melden wollen.....?!
Bleibt zu hoffen, dass es nicht nur Einzelkämpfer sind und dass aus vielen Richtungen sich jetzt  Verantwortliche bemerkbar machen. Die deutschen Spitzenathleten und ihr Nachwuchs hätten es verdient!
Jedenfalls blicken sehr viele Betroffene und nicht nur DTB-Mitglieder mit Spannung auf das kommende Wochenende und auf Mainz!

Eckhard Herholz
(gymmedia)

>> Lesen Sie in diesem Zusammenhang auch die Wortmeldungen des Turn-Klubbs Hannover in Briefen an die DTB-Spitzen auf der Website des TKH unter www.tkh-turnen.de

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