28.09.2000

OLYMPICforum

Kopfstand und Katzenjammer 
Von Juri Robel 

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"Der Sport muss professioneller geführt werden" - Äußerungen von deutschen Sportpolitikern
Jurij Robel ist Kunstturn-Landestrainer in Berlin. 
Mit seinem Fazit eröffnet er hier die Diskussion um die weiteren Wege im Kunstturnen (und natürlich auch den anderen beiden olympischen Disziplinen). Nehmen Sie seine Meinung oder die Äußerungen der Politiker zum Anlass und GYMmedia als Forum, um Ihre Meinung zum "Wie weiter?" zu äußern!

Kopfstand und Katzenjammer

Die Olympischen Spiele sind noch in vollem Gange, da setzt im deutschen Team und bei der Sportführung der Katzenjammer schon ein:

"Unprofessionelles Verhalten von Trainern und Aktiven", "überholte Strukturen", "Trainer überbewertet? ", "die Nationalriege hat abgewirtschaftet, und unser Sportdirektor Wolfgang Willam hat das gemacht, was er immer gemacht hat, nichts", so nur einige der Schlussfolgerungen und gegenseitigen Schuldzuweisungen am enttäuschenden Abschneiden der deutschen Olympioniken. Und dies betraf nicht nur die Turner, denn die hatten sich zur Halbzeit der Olympischen Spiele mit ihrem 10. Mannschaftsrang voll im Trend der gesamten deutschen Mannschaft befunden, welche zwischen Rang 9 und 10 in der sicher umstrittenen Medaillenwertung dahindümpelte – deutlich zum Beispiel hinter den Niederlanden, Italien und Frankreich und nur knapp vor Südkorea und Polen.

Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man über einige der Grotesken nur lachen, die da über die olympische Bühne gingen:

  • Die einzige deutsche Medaillenchance bei den Kunstturnern (Ringefinale) nahm der 2. (oder gar dritte) Ersatzturner wahr, der erst seine Olympiachance erhielt, nachdem verletzungsbedingte Ausfälle dazu zwangen.
  • Nach dem Einzelmehrkampf verabschiedete sich die deutsche Delegation ohne Kommentar durch die "Hintertür", keine Presseinformation, kein Interview des zweifellos überzeugenden Dimitri Nonin. In der sowieso schwierigen Mediensituation, in der sich das Turnen in Deutschland befindet ein absolut unprofessionelles Vorgehen seitens der Mannschaftsführung.
  • Die beiden deutschen Kunstturnerinnen, welche die Olympiaqualifikationsnormen nur knapp verpasst hatten, wurden mangels Aussicht auf eine Endkampfchance nicht nach Sydney geschickt. Solch harte Bandagen seitens des NOK, gleichermaßen für alle angewendet, hätten eigentlich zu einer wahren Flut von Finalteilnehmern und Medaillengewinnern führen müssen.

Doch so lustig ist dies nun wahrlich nicht, zumal Leichtathleten, Fechter und Schwimmer (alles Kernsportarten und Hochburgen des deutschen Spitzensports) mit ihrem Abschneiden ähnlich unzufrieden sein dürften, wie die Turner.

Förderung steht auf dem Kopf

Fragt sich nun, wem es hilft, den schwarzen Peter hin und her zu schieben oder ob es nicht an der Zeit wäre, nach den wahren Ursachen zu suchen.

Anfangen müsste man sachlich-selbstkritisch mit der Feststellung, dass der DDR-Bonus, mit dem sich viele Sportarten über die vergangenen Jahre hinwegretten konnten, aufgebraucht ist. Bei den deutschen Kunstturnerinnen war das auf Grund des rasanten Generationenwechsels und des niedrigen Startalters natürlich wesentlich schneller erledigt, als in anderen Sportarten.

Ebendeshalb können sie als Paradebeispiel, vielleicht aber auch als Mahnmal dafür herhalten, wie man Leistungssportförderung nicht sehen sollte, oder anders formuliert: was dem deutschen Spitzensport in der Zukunft blüht, wenn man die Prämissen überall so anlegt, wie bei den Turnerinnen.

DSB-Präsident von Richthofen formulierte zu Beginn der Olympischen Spiele völlig richtig, dass Erfolg nur das Ergebnis von Investitionen sei. Den Pferdefuss benannte er aber auch: Investiert werde nur, wo Aussicht auf Erfolg bestehe, damit müssten alle leben.

Dieser Logik folgend, stellt sich nun die Frage, wo denn künftig noch investiert werden könne und was dann in vier Jahren noch übrig bleibt, wenn sich vielleicht die Ruderer und Kanuten auch aus der Weltspitze verabschieden.

Ich denke, dass die Sportförderung in Deutschland momentan auf dem Kopf steht und es Zeit wäre, sich in der Welt umzuschaun, wie mit Investitionen auch aus der sportlichen Bedeutungslosigkeit heraus Spitzenleistungen entwickelt werden können (Beispiel bei den Turnerinnen: Spanien, Frankreich, Australien).

Die Kappung von Trainerstellen und die Reduzierung von Mitteln für Wettkämpfe und Trainingslager, wie bei den Turnerinnen in den letzten Jahren in trauriger Regelmäßigkeit vollzogen und für den kommenden Olympiazyklus bereits erneut angekündigt, kann jedenfalls nicht der Wahrheit letzter Schluss sein, und wenn dies jetzt anderen Sportarten bevorsteht, die ihre Sollvorgaben und die olympischen Erwartungen nicht erfüllt haben - dann gute Nacht deutscher Spitzensport.

Es ist höchste Zeit, dass wir uns aus dem Kopfstand herausbewegen und zwar nicht zurück in den Kniestand sondern mit einer Rolle vorwärts!

Wie professionell sind unsere Strukturen?

Wie aber kann solch eine Rolle aussehen ?
Ich denke, angesichts der ernüchternden Situation gehört vieles, wenn nicht alles auf den Prüfstand. Ich schließe die Trainer dabei nicht aus, nur werden die im Zusammenhang mit ihren Zeitverträgen ja sowieso regelmäßig auf das Tablett gesetzt.

Berücksichtigen sollte man aber das gesamte Umfeld, mit dem ein Leistungssportler in der Bundesrepublik im Laufe seiner Karriere in Berührung kommt und da muß man zwangsläufig folgende Fragen stellen:

  • Gibt das Schulsystem in Deutschland wirklich Spielraum für echte Eliteförderung?
  • Ist das Sichtungssystem (wenn man überhaupt noch von System reden kann) noch geeignet, wirkliche Talente zu finden?
  • Ist die durchgängige Ausbildung und Betreuung echter Talente vom Grundlagentraining bis in den Hochleistungsbereich hinein mit qualifizierten und motivierten Trainern gesichert?
  • Genießen die Sportler und Sportarten (auch die der weniger profitträchtigen) in der öffentlichen Meinung jenes Maß an Popularität, welches für die Athleten auch als echte Motivation und Entschädigung für ihren Knochenjob dienen kann?
  • Apropos Knochenjob: ist bei den hohen physischen und psychischen Beastungen der Leistungssportler eine umfassende und kompetente medizinische und physiotherapeutische Betreuung bis in den Nachwuchs hinein gesichert?
  • Sind die Sportler in jedem Fall sozial abgesichert, gibt es Entschädigungen, wenn sich Sportler zugunsten ihrer sportlichen Laufbahn dazu entschließen, ein Jahr mit der Schule auszusetzen oder zugunsten höherer Trainingsumfänge das Pensum von einem Schuljahr auf zwei strecken? Gemeint sind hier die Athleten der Sportarten, die ihre Siege fast ausschließlich für Ruhm und Ehre des Vaterlandes und nicht für exorbitante Preisgelder vollbringen.
  • Ohne den unzähligen fleißigen und engagierten Ehrenamtlichen in den Vereinen und Verbänden zu nahe treten zu wollen: Ist das System ehrenamtlicher Leitung im Spitzensport, wo es um höchstprofessionelle Ergebnisse geht, wirklich noch geeignet und zeitgemäß?

Keine einzige dieser Fragen kann eindeutig mit Ja beantwortet werden, im Gegenteil: es ließen sich in Beantwortung dieser Fragen etliche Beispiele anführen, an denen sichtbar wird, dass es in Deutschland viele künstliche oder bürokratische Hürden gibt, die den Weg in die Weltspitze versperren.

Klar ist auch, dass die Beseitigung dieser Hürden Geld kostet, und zwar nicht wenig. Und hier schließt sich der Kreis. Wenn man das eine möchte, nämlich professionelle und nicht provinzielle Ergebnisse, darf man das andere nicht lassen, nämlich Investitionen.

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Ist der deutsche Turnsport noch zu retten...?
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29-09-2000