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update: 12-SEP-2002

Chemnitz

Turnasse fühlen sich unter Druck gesetzt

Chemnitzer Sven Kwiatkowski und Tom Neubert sollen an anderen Stützpunkten trainieren...

- von Martina Martin (Freie Presse, Chemnitz)

 


Sven Kwiatkowski

Eigentlich wollten Sven Kwiatkowski und Tom Neubert die gegenwärtige Trainingsphase ohne Wettkampfbelastungen nutzen, um sich sehr intensiv auf die Einzel-WM im November vorzubereiten. Denn um sich für dieses Championat bei einem Länderkampf im Oktober zu qualifizieren, müssen Übungen mit dem höchsten Ausgangswert von 10 nach neuem Modus sicher gezeigt werden. Körperlich fit, können die Chemnitzer Spitzenturner zwar gegenwärtig ihr Pensum absolvieren.


Tom Neubert

Doch wie ein Damokles-Schwert schwebt über ihnen eine noch nie da gewesene Unsicherheit hinsichtlich ihrer Zukunft. „Man versucht die Sache zwar zu verdrängen. Aber das gelingt nicht immer, und dann ist es schon demotivierend“, meinen die KTV-Asse unisono.
Was die beiden Athleten und auch ihren Coach Henry Vogel stark belastet, sind die Machenschaften der Verantwortlichen im Deutschen Turnerbund (DTB). Vizepräsident Eduard Friedrich und Sportdirektor Wolfgang William entschieden, dass Tom und Sven sowie Sergej Pfeifer (Hannover) und Sebastian Faust (Halle) erst einmal aus dem ohnehin nur 14-köpfigen Kader für die Olympischen Spiele in Athen 2004 suspendiert werden.

Der wichtigste Grund: Die Weigerung des Quartetts, in den nächsten zwei Jahren in Stuttgart oder Berlin zu trainieren, zudem sollte auch Henry Vogel nur noch in einem der beiden Orte arbeiten. Zu dieser Konfrontation kam es während des vergangenen Lehrganges in Kienbaum. Den Turnern und ihren Trainern wurde von Friedrich, William und dem zu jener Zeit noch tätigen Chef-Bundestrainer Rainer Hanschke (inzwischen zurückgetreten) ein angeblich einstimmiger Beschluss des Lenkungsstabes (Athletensprecher René Tschernitschek wusste davon als Mitglied nichts) mitgeteilt, dass Athen-Kader künftig ausnahmslos an zwei Stützpunkten trainieren dürfen. ( - siehe auch Wortmeldung von Renè Tschernitschek)


Trainer Vogel und Kwiatkowski

Diese Konzentration wäre der einzige Weg für weitere Steigerungen bis 2004. „Nichts ist der Leistung zuträglicher als die besten Leute aufeinander zu hetzen – und zwar Tag für Tag“, formulierte dabei Eduard Friedrich drastisch und ließ keinerlei Bedenken zu, weder von Trainern noch von Sportlern. (Zitat: Süddeutsche Zeitung vom 4.September)
In Einzelgesprächen sollten die Athleten dann zu den anvisierten Wechseln überredet werden. 
„Ich habe klar gesagt, dass ich dagegen bin. Denn in Chemnitz konnte ich mich auch deshalb so entwickeln, weil das soziale Umfeld stimmt. Hier habe ich meine Familie, meine Freunde, optimale Trainingsbedingungen. Es herrscht eine gute Atmosphäre. Wir werden vom OSP bestens betreut, haben die Bundeswehrsportfördergruppe in der Nähe, uns einiges aufgebaut. Doch meine Gründe wurden nicht akzeptiert“, berichtete Sven Kwiatkowski, der als mehrfacher Deutscher Meister seit Jahren zu den Stützen im Nationalteam gehört. Zudem verwies er auch darauf, dass die Mannschaft das Jahr über mindestens 15 Wochen gemeinsam Lehrgänge absolviert und die Konkurrenzsituation so permanent existiert.
Auch Tom Neubert, der sich an der Seite von „Kwitschi“ in die Männerauswahl turnte und als EM-Sechster am Reck dieses Jahr das wertvollste Einzelergebnis für den DTB erreichte, versuchte, die Funktionäre mit ähnlichen Argumenten zu überzeugen. „Man setzte mich dann richtig unter Druck, drohte auch mit Mittelkürzungen für den gesamten Stützpunkt“, erzählte der 22-Jährige frustriert.


Sergej Pfeifer

Bei Sergej Pfeifer wurde ignoriert, dass er in Hannover bereits eine berufliche Absicherung besitzt. Die gesamte Mannschaft war mit den Festlegungen sowie der Vorgehensweise überhaupt nicht einverstanden. Sie sprach daraufhin Cheftrainer Rainer Hanschke, der sich bei dieser Sache in keiner Weise im Interesse der Athleten einsetzte und auch zuvor schon oft bei Wettkämpfen pädagogisch versagt habe, das Misstrauen aus. Er warf daraufhin das Handtuch. Dann wandte sich das Team mit einem Brief an DTB-Präsident Rainer Brechtken. Eine extra anberaumte Zusammenkunft mit ihm in Berlin brachte zunächst keine neuen Entscheidungen.

KTV-Geschäftsführer Hans Müller, der auch in seiner Funktion als Präsident der Deutschen Turnliga schon mehrfach auf einen Gedankenaustausch mit den Verantwortlichen gedrängt hatte, kam während der gestrigen Beratung mit den Leistungssportvertretern der Landesverbände mit Friedrich zusammen: 
„Er beharrte weiter stur auf seiner Position, ging aber wenigstens soweit, dass bis zur Einzel-WM alles beim Alten bleibt. Ab 1. Januar 2003 soll es dann die Veränderungen geben“, informierte der Chemnitzer, der jedoch wie gewohnt kämpferisch bleibt.
Für Ende September hat er die DTB-Funktionäre nach Chemnitz eingeladen, um ihnen nochmals eindringlich auch die negativen Folgen ihre Maßnahmen zu verdeutlichen. Die gesamte Nachwuchsarbeit, die zu den erfolgreichsten in Deutschland gehört, wäre zum Beispiel in Gefahr, wenn die Vorbilder fehlen.
Martina Martin (Freie Presse, Chemnitz).

Kommentar:

Falscher Weg:  Athleten ausgebootet
Von Martina Martin / Freie Presse, Chemnitz
Kräfte für eine Sache stärker zu konzentrieren, ist vom Prinzip her keine
schlechte Sache. Doch angedachte Maßnahmen müssen einen Sinn erkennen lassen und sollten nicht schon vorher wertvolles Porzellan - wie im Falle des Deutschen Turnverbandes geschehen - zerschlagen.
 Mündige Athleten von Mitte 20 sowie deren Trainer werden nicht nur mit völlig unüberlegten Festlegungen ohne vorherige Diskussion konfrontiert, auch die Art und Weise, wie man vorging, spottet jeder Beschreibung. 
An sechs Stützpunkten trainieren derzeit die wenigen Asse, die schon nächstes Jahr bei der WM um die Olympiaqualifikation kämpfen müssen. Nach Sydney (10. Platz) und dem Tiefpunkt bei der WM 2001 (14.) gelangen bei der EM wieder Steigerungen (5.), doch konzeptionell passierte auf Verbandsebene so gut wie nichts. Anstatt jedoch bestehende Bedingungen so zu verbessern, dass die zaghaften Achtungserfolge im schweren internationalen Vergleich ausgebaut werden können, sollen Zwangswechsel kurzfristig das Allheilmittel sein? Anstatt den hart trainieren Athleten den Rücken zu stärken, werden sie unter Druck gesetzt und völlig verunsichert. Eine Rückkehr in die Spitze bleibt mit derartigen Maßnahmen noch lange Utopie.
Doch halt, DTB-Vizepräsident Friedrich bewertet das völlig anders.
 
Er sieht künftig eigentlich nur noch die Chinesen vor den Deutschen. Eine Einschätzung, die genauso an der Realität vorbeigeht wie das von ihm propagierte "Aufeinanderhetzen" der Sportler als Erfolgsgarant. Quo vadis, deutsches Turnen?

Zitat des Tages:
"Potenziell ist dieses Team sogar fähig, ganz vorne mitzumischen - mal
abgesehen von den unerreichbaren Chinesen."
Eduard Friedrich, DTB-Vizepräsident des DTB zum Leistungsvermögen der
deutschen Turner

(Fotos, Hervorhebungen: gymmedia)

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(gymmedia)

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